Leseprobe

Jurij Vasiljev, Imagination – Bewegung – Stimme

Zum Buch

Aus dem Vorwort

Training, Üben ist Voraussetzung für Professionalität – auch des Schauspielers.
Das sagt sich leicht dahin und steht streng und apodiktisch da als Einleitung und Vorspruch zu Jurij Vasiljevs „Training mit Variationen“.
Training – wofür eigentlich? Was ist die professionelle Leistung, für die Jurij Vasiljev seine Übungen und die vielen Variationen vorschlägt – Übungen und Improvisationen mit Anspruch, durchaus aufwendig und anstrengend in ihrem Umfang, ihrer körperlichen und mentalen Belastung? Und dazu: Die beständige Aufforderung und Ermunterung zu weiterem Variieren und Improvisieren könnten diese sechs Unterrichtsstunden und achtundneunzig Übungen zu beinahe unbegrenzter Dauer ausweiten. Wozu dieser Aufwand? Für welchen „Wettkampf“, für welche künsterische Leistung eigentlich dieser Aufwand und dieser Anspruch an die Vorstellungskraft? […]

Wer bei und mit Jurij Vasiljev gearbeitet, trainiert hat – und auch, wer ihn erst über dieses Buch kennenlernt, der wird sich vor allem an Vergnügen erinnern, an Lust, an die Athmosphäre von Kreativität, an Schöpfertum (ungeachtet aller Mühe, Anstrengung, zeitweisem Nicht-Gelingens) – es ist künstlerisches Training. Das Gelingen einer Übung, das Schaffen neuer Variationen ist hier eine künstlerische Leistung.

Vielleicht besteht die Kunst-Leistung des Schauspielers darin, immer wieder Fremdes zu Eigenem zu machen – nicht zu angeblich Eigenem, täuschend scheinbar Eigenem, sondern sich persönlich, rückhaltlos, oft radikal einzulassen auf die Erlebnisse der Rolle, auf ihre Wertungen, auf ihre Empfindungen – in vorgeschriebenen Handlungsabläufen abrufbar und in vorgeschriebener Zeitdauer aktuelle, unverstellte, wirkliche Beziehungen zum Partner einzugehen, nicht die Illusion des tiefen persönlichen, widerspruchsvollen, meist schmerzhaften Handelns und Erlebens zu schaffen, sondern es erlebbar zu machen für den Zuschauer, nachvollziehbar, betroffen machend und fröhlich – das Spiel ernsthaft und mit vollem Einsatz zu spielen, nicht mit Spielgeld zu bezahlen, sondern mit dem echten Geld wirklichen Erlebens, wirklichen Glücks, wirklichen Schmerzes – sich selbstvergessen den anderen Erleben, dem anderen Empfinden, dem anderen Handeln hinzugeben: Das Fremde zu Eigenem zu machen, gekonnt, als Leistung von Vorstellungskraft und durchlässigem, ausdrucksstarken Körper und Stimme.

Ja, und man kann es lernen und trainieren, sich in diese andere, fremde Welt zu begeben, Schritt für Schritt, behutsam, oft zögernd, und sie für die Zeit der Probe und der Aufführung zu seiner eigenen zu machen – und die anderen mit hineinzunehmen: so wie der Stalker in A. Tarkowskijs großartigem Film, der andere in die „Zone“ mitnimmt, der sie nicht führt, sondern geleitet, und am Ort der Wünsche jedesmal wieder die besondere, nur der „Zone“ eigene, „andere“ Erregung, Hoffnung, Betroffenheit erlebt – wirklich erlebt und nicht nur so tut, als erlebe er sie.

Jurij Vasiljev ist ein solcher Stalker – er kennt den Weg in die „Zone“, er ist ihn oft gegangen, und er kann anderen den Weg zeigen: Aber gehen müssen sie ihn selbst: Er geleitet nur, er geht nicht voran, er lässt gehen – und er zeigt vorher und beim Gehen, wie die Schritte – vielleicht! – zu machen sind, wo Gefahren sind und wo Gelingen ist und Sicherheit und glückliches Erleben des Gelingens. Der Weg mit seinen Stationen ist das Aufregende – trainiert wird ab der ersten Unterrichtsstunde, der ersten Übung an Schöpfertum, Kreativität, um in den Rollen Originale zu schaffen und keine Kopien – und das ist dann wohl die Kunst, zu der das Handwerk gebraucht wird: Die Sensibiltät für das andere Verhalten, das Verständnis dafür und die unbedingte, persönliche Rechtfertigung des Fremden, so dass es das Eigene wird und auch so erlebt werden kann. […]

Wer bei Jurij Vasiljev trainiert, der trainiert Kreativität, der trainiert, Fremdes zu Eigenem zu machen, der trainiert nicht nur Muskeln, Feinmotorik, Stimmbänder und „Sprachrohr“ – der trainiert Fantasie, Vorstellungskraft, Empfindung; der trainiert professionell, der reichen eigenen Vorstellung neu und einmalig GESTALT zu geben mit Körper und Stimme. Und das kann sehr glücklich machen – die Macher und die Zuschauer.

Gerhard Neubauer, Leipzig, Juni 2000

Lektion 1: Tenuto

Aufmerksamkeit – Empfindungen – Freiheit

Freiheit der Muskeln, der Gefühle, der Vorstellungen, der Kommunikation.
Entstehen von Empfindungen.
Innen- und Außen-Empfindungen.
Mein persönliches Empfindungs-System und was dazugehört.
Empfindung des „leichten“ Atmens.
Unwillkürliche „Vorbereitungen zum Ausatmen“.
Synchronität, Tempo und Rhythmus im Gruppen-Training.
Vorstellungskraft und Empfindungen.
Atemrhythmus.
Wahrnehmung körperlicher Empfindungen.
Enstehung von Bewegung und Stimmklang.
Vertikalität des Körpers und Vertikalität des Stimmklangs.
Einheit des Trainings von Atem und Körper.
Kontraste im Tastsinn.
Elastizität von Körper und Atmung.
Aktivierung von Haut-Empfindungen.
Erinnerte Empfindungen.
Geruchssinn und Stimme.
Freiheit im Training.